Machtstreben – Teil 1

Die Kuh lag in Wehen, und zwei oder drei Leute, die regelmäßig ihr Melken, Füttern und Säubern besorgten, waren jetzt bei ihr. Sie beobachtete sie ständig, und wenn sich einer aus irgendeinem Grunde entfernte, rief sie ihn leise zurück. In dieser kritischen Stunde wollte sie ihre Freunde um sich haben. Alle waren gekommen, und sie war froh darüber, aber ihre Wehen nahmen zu. Dann wurde das kleine Kalb geboren: es war eine Färse und bildschön. Die Mutter stand auf, lief rings um ihr Neugeborenes herum und stieß es von Zeit zu Zeit sanft an. Sie war so glücklich, dass sie uns mitunter zur Seite drängte. Das trieb sie eine Zeitlang so fort, bis sie schließlich müde wurde. Wir hielten das Kalb an ihre Euter, aber die Mutter war zu aufgeregt, um es trinken zu lassen. Schließlich beruhigte sie sich; aber dann wollte sie uns nicht mehr fortlassen. Eine der Damen setzte sich auf die Erde, und die neue Mutter streckte sich aus und legte den Kopf in ihren Schoß. Sie hatte plötzlich alles Interesse an ihrem Kalb verloren, und ihre Freunde zählten jetzt wieder. Draußen war es sehr kalt gewesen, aber nun ging endlich die Sonne hinter den Hügeln auf und es wurde wärmer.

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Er war Mitglied der Regierung und war sich – wenn auch etwas scheu – seiner Bedeutung bewusst. Er sprach über die Verantwortung seinem Volke gegenüber und erklärte, in welcher Weise seine Partei der Opposition überlegen sei und besser arbeiten könne. Sie gäben sich alle Mühe, der Bestechung und dem Schwarzhandel ein Ende zu machen, aber es sei so schwer, tüchtige und unbestechliche Leute zu finden, und so leicht für Außenstehende, die Regierung zu kritisieren und ihr die Schuld für alles zu geben, was ungetan bliebe. Man sollte es sich in seinem Alter leichter machen, fuhr er fort, doch die meisten Menschen seien zu gierig nach Macht, sogar die Untüchtigen. Tief im Innern seien alle Menschen unglücklich und auf ihren eigenen Vorteil bedacht, wenn auch manche ihr Elend und ihr Verlangen nach Macht klug zu verbergen wüssten. Warum dränge es jeden so sehr nach Macht?

Was verstehen wir unter Macht? Jeder Mensch und jede Gruppe strebt nach Macht: für sich selber, für eine Partei oder eine Ideologie. Partei oder Ideologie sind nur Vergrößerungen des eigenen Ich. Der Asket strebt nach Macht durch Selbstverleugnung und sogar eine Mutter durch ihr Kind. Es gibt die Macht der Tüchtigkeit mit ihrer Rücksichtslosigkeit und die Macht der Maschine in den Händen einiger weniger; es gibt die Herrschaft eines Menschen über einen andern, die Ausbeutung der Dummen durch die Klugen, die Macht des Geldes, des Namens und Wortes und des Geistes über den Stoff. Wir streben alle nach Macht in irgendeiner Form, sei es über uns selber oder über andere. Der Machtdrang bringt ein gewisses Glück, eine nicht allzu flüchtige Befriedigung mit sich. Die Macht des Verzichts gleicht der des Reichtums. Es ist unser Verlangen nach Befriedigung und Glück, das uns auf die Machtsuche treibt. Und wie leicht lassen wir uns befriedigen! Die Leichtigkeit, mit der wir ein bestimmtes Maß an Befriedigung erreichen, blendet uns, wie alle Befriedigung blendet. Warum streben wir überhaupt nach Macht?

»Ich glaube, in erster Linie weil sie uns auf anerkanntem Wege körperliches Behagen, gesellschaftliches Ansehen und Achtbarkeit verschafft.«

Liegt der Machtdrang nur auf einer Schicht unseres Wesens? Oder streben wir innerlich genauso wie äußerlich danach? Warum? Warum verehren wir alle Autorität – die von Büchern oder Personen, die des Staates oder des Glaubens? Woher kommt unser Drang, sich an einen Menschen oder eine Idee klammern zu wollen? Früher war es die Autorität der Priester, die uns band, heute ist es die der Fachleute und Spezialisten. Haben Sie je bemerkt, wie jemand mit Titel und Rang, oder wie der mächtige Leiter eines Unternehmens behandelt wird? Macht in irgendeiner Form scheint unser ganzes Leben zu beherrschen: die Macht des Einzelnen über viele, der Vorteil des Einen über den Andern oder gegenseitige Benutzung.

»Was verstehen Sie unter dem Einander-Benutzen?«

Das ist ziemlich einfach, nicht wahr? Wir machen zu gegenseitiger Befriedigung voneinander Gebrauch. Unser heutiges Gesellschaftsgefüge – und das bedeutet unser Verhältnis zueinander – beruht auf Bedürfnis und Gebrauch. Braucht man zum Beispiel Wahlstimmen, um zur Macht zu gelangen, so bedient man sich seiner Mitmenschen, um es zu erreichen, und sie brauchen ihrerseits das, was man ihnen verspricht. Die Frau braucht den Mann, und der Mann die Frau. So ist heutzutage unser Verhältnis zueinander auf Bedürfnis und Gebrauch gestellt. Aber eine solche Einstellung birgt Zwang in sich, und daher ist auch die Grundlage unserer Gesellschaft nichts als Gewaltsamkeit. Solange also unser Gesellschaftsgefüge auf gegenseitigem Bedürfnis und Gebrauch beruht, muss es notgedrungen gewaltsam sein und zersetzend wirken. Wenn ich einen anderen zu meiner eigenen Befriedigung oder zur Erfüllung einer Ideologie, mit der ich mich identifiziere, benutze, kann nur noch Furcht, Misstrauen und Streit zwischen uns herrschen. Damit geht meine Beziehung zum andern in einen Isolierungs- und Auflösungsvorgang über. All das wird im Leben des Einzelnen geradeso schmerzhaft deutlich wie in den Angelegenheiten der Welt.