Autorität und Zusammenarbeit

Sie sei Sekretärin des Hauptleiters eines großen Betriebes gewesen, erklärte sie, und habe viele Jahre für ihn gearbeitet. Dass sie bestimmt sehr tüchtig war, zeigte sich in ihrer Haltung und Redeweise. Sie hatte etwas Geld gespart und vor zwei Jahren ihre Stelle aufgegeben aus dem Wunsche, der Welt zu helfen. Noch ziemlich jung und kräftig, wollte sie den Rest ihres Lebens einer lohnenden Aufgabe widmen, daher hatte sie verschiedene geistige Organisationen in Erwägung gezogen. Ehe sie auf die Hochschule kam, war sie in einem Kloster erzogen worden, aber was man sie dort gelehrt hatte, erschien ihr heute begrenzt, dogmatisch und autoritär, und sie konnte sich natürlich nicht mehr einem solchen religiösen Institut anschließen. Nachdem sie mehrere andere untersucht hatte, war sie schließlich an eins gekommen, das umfassender und von größerer Bedeutung als die meisten anderen zu sein schien, und nun stand sie im Mittelpunkt dieser Organisation als Helferin eines der Hauptmitarbeiter.

»Endlich habe ich etwas gefunden«, fuhr sie fort, »das mir eine befriedigende Erklärung für unser gesamtes Dasein bietet. Natürlich gibt es da auch die Autorität der Meister, aber man braucht nicht an sie zu glauben. Zufällig glaube ich daran, das tut indessen nichts zur Sache. Ich gehöre zum inneren Kreis und, wie Sie wissen, üben wir bestimmte Formen des Meditierens. Nur sehr wenige Mitglieder erfahren heutzutage etwas über ihre Einweihungen durch die Meister, längst nicht mehr so viele wie früher. Man ist vorsichtiger geworden.«

Wenn ich fragen darf: warum erklären Sie mir das alles?

»Ich war neulich nachmittags in Ihrer Diskussionsgruppe, als die Behauptung aufgestellt wurde, alles Nachfolgen sei von Übel. Seitdem habe ich noch mehreren Diskussionen beigewohnt und bin natürlich von allem, was da zur Sprache kam, sehr erregt. Sehen Sie, das Arbeiten für die Meister braucht noch nicht notwendigerweise Gefolgschaft zu bedeuten. Die Autorität ist zwar da, aber wir sind es, die Autorität nötig haben. Sie verlangen keinen Gehorsam von uns, doch wir gehorchen ihnen oder ihren Vertretern freiwillig.«

Wenn Sie, wie Sie sagen, an einer Diskussion teilgenommen haben, finden Sie dann nicht Ihre Worte jetzt ziemlich unreif? Solange man bei den Meistern oder ihren Stellvertretern, deren Autorität sich auf ihren eigenen, selbst gewählten Pflichten und Vergnügen aufbaut, Schutz sucht, ist es im wesentlichen genauso, als ob man sich in kirchliche Autorität flüchtet, nicht wahr? Das eine mag für eng, das andere für umfassend gehalten werden, doch beides ist offenbar bindend. Ist man verwirrt, so sucht man Leitung; was man aber findet, ist unvermeidlich das Ergebnis der eigenen Verwirrung. Jeder Führer ist ebenso verwirrt wie seine Nachfolger, die ihn nur infolge ihrer eigenen Konflikte und Leiden gewählt haben. Einem anderen nachzufolgen – sei er auch ein Führer, ein Erlöser oder Meister –, kann niemals Klarheit und Glück bringen. Nur wenn man seine eigene Verwirrung und deren Urheber versteht, wird man frei von Konflikt und Elend. Das scheint ziemlich einleuchtend, nicht wahr?

»Vielleicht für Sie, aber ich verstehe es immer noch nicht. Wir müssen nach den richtigen Grundsätzen arbeiten, und die, die sie kennen, sollen und werden bestimmte Pläne zu unserer Leitung festlegen. Das bedeutet doch nicht blinde Gefolgschaft.«

Es gibt keine aufgeklärte Gefolgschaft, jedes Nachfolgen ist von Übel. Autorität ist immer verderblich, bei denen an hoher Stelle genauso wie bei den Gedankenlosen. Gedankenlose Menschen werden nicht dadurch nachdenklich, dass sie jemandem folgen, sei er auch noch so bedeutend oder edel.

»Ich möchte gern mit meinen Freunden zusammen für etwas von weltweiter Bedeutung tätig sein. Um aber zusammenarbeiten zu können, brauchen wir doch eine Autorität über uns.«

Nennen Sie das wirklich Zusammenarbeit, wenn der angenehme oder unangenehme Einfluss von Autorität wie ein Zwang über allem steht? Ist es Zusammenarbeit, wenn man an einem Plan mitwirkt, den ein anderer vorgeschrieben hat? Passt man sich dann nicht immer bewusst oder unbewusst an, aus Furcht, aus Hoffnung auf Belohnung und so weiter? Und ist Anpassung Zusammenarbeit? Kann es überhaupt zu einem Zusammenwirken kommen, wenn eine wohlwollende oder auch tyrannische Autorität über einem schwebt? Zweifellos entsteht Zusammenarbeit nur, wenn man Liebe zur Sache selber hat, ohne Furcht vor Strafe oder Misserfolg und ohne den Hunger nach Erfolg und Anerkennung. Zusammenwirken ist erst dann möglich, wenn Freiheit herrscht, Freiheit von Neid und Erwerbsucht, von dem Streben nach persönlicher oder allgemeiner Herrschaft und Macht.

»Sind Sie nicht viel zu drastisch in diesen Dingen? Wir würden ja nie etwas erreichen, wenn wir abwarten wollten, bis wir uns von all den inneren, offenbar bösen Ursachen befreit haben.«

Und was erreichen Sie jetzt? Tiefer Ernst und völlige, innere Wandlung gehören dazu, eine andere Welt entstehen zu lassen; es muss wenigstens ein paar Menschen geben, die bewusst oder unbewusst nicht länger Konflikt und Leid fortsetzen wollen. Ehrgeiz für die eigene Person und für die Gemeinschaft muss aufhören, denn jede Form von Ehrgeiz steht der Liebe im Wege.

»Ich bin von allem, was Sie gesagt haben, sehr verstört und hoffe, dass ich ein andermal wiederkommen darf, wenn ich etwas ruhiger geworden bin.«

Sie kam nach langer Zeit noch einmal zurück.

»Nachdem ich bei Ihnen gewesen war, bin ich eine Weile allein fortgegangen, um alles sachlich und klar zu durchdenken, und habe ein paar schlaflose Nächte verbracht. Meine Freunde rieten mir, mich von Ihren Worten nicht zu sehr beunruhigen zu lassen, aber ich war aufgerüttelt und musste bestimmte Dinge bei mir selber entscheiden. Seitdem habe ich auch einige Ihrer Vorträge etwas aufmerksamer und ohne Widerstreben gelesen, und alles wird langsam klarer. Nun kann ich nicht mehr zurück – ich dramatisiere nicht. Ich bin aus der Organisation ausgetreten und habe alle Folgen auf mich genommen. Natürlich sind meine Freunde darüber aufgebracht und meinen, ich werde wieder zurückkommen, aber ich glaube nicht. Ich habe es getan, weil ich die Wahrheit in Ihren Worten erkenne. Jetzt will ich abwarten, was geschieht.«