Was stumpft uns ab? – Teil 1

Er hatte eine kleine Stellung mit armseligem Gehalt und war mit seiner Frau zusammen gekommen, die ihr gemeinsames Problem besprechen wollte. Beide waren noch ganz jung und hatten keine Kinder, obwohl sie schon ein paar Jahre verheiratet waren; das war aber nicht ihr Problem. Sein Gehalt reichte kaum aus, um sich in den gegenwärtigen schweren Zeiten durchzuschlagen, da sie aber kinderlos waren, hatten sie für sich beide gerade genug zum Leben. Niemand konnte voraussagen, was die Zukunft bringen würde, obwohl sie kaum schlimmer als die Gegenwart werden konnte. Er wollte nicht gern sprechen, doch seine Frau erklärte, er müsse es tun. Sie hatte ihn beinahe dazu gezwungen mitzukommen, denn er hatte sich sehr gesträubt, jetzt aber war er da, und sie war froh darüber. Das Reden fiele ihm nicht leicht, sagte er, und er habe nie zu jemand anderem als zu seiner Frau über sich selber gesprochen. Er habe ein paar Freunde, habe aber sogar ihnen gegenüber nie sein Herz ausgeschüttet, denn sie würden ihn doch nicht verstehen. Während er sprach, begann er langsam aufzutauen, und seine Frau hörte mit Besorgnis zu. Er erklärte, dass seine Arbeit kein Problem für ihn sei, denn sie interessiere ihn und ernähre sie beide jedenfalls. Sie waren einfache, anspruchslose Menschen mit Universitätsbildung.

Schließlich ging sie daran, ihr Problem darzulegen. Sie sagte, seit etwa zwei Jahren scheine ihr Mann alles Interesse am Leben verloren zu haben. Er arbeite in seinem Kontor, aber das sei auch ungefähr alles. Er ginge am Morgen zur Arbeit und käme am Abend zurück, ohne dass sich seine Arbeitgeber je über ihn beklagten.

»Meine Arbeit ist größtenteils Routine und erfordert nicht allzu große Aufmerksamkeit. Zwar interessiert sie mich, aber sie strengt mich auch immer irgendwie an. Meine Schwierigkeit liegt nicht im Kontor oder bei meinen Mitarbeitern, sondern in mir selber. Wie meine Frau schon sagte, habe ich alles Interesse am Leben verloren, ich weiß nicht recht, was mir fehlt.«

»Er war immer schnell begeistert, empfindsam und liebevoll, seit über einem Jahr indessen ist er allem gegenüber stumpf und gleichgültig geworden. Früher war er sehr zärtlich zu mir, jetzt aber sieht das Leben für uns beide traurig aus. Es scheint ihm einerlei zu sein, ob ich da bin oder nicht, und es macht uns fast unglücklich, zusammen in demselben Hause leben zu müssen. Er ist keineswegs unfreundlich oder rücksichtslos, sondern nur völlig apathisch und gleichgültig geworden.«

Vielleicht weil Sie keine Kinder haben?

»Nicht deswegen«, sagte er, »unsere rein körperliche Beziehung ist mehr oder weniger in Ordnung. Keine Ehe ist vollkommen, und bei uns gibt es auch Wechselfälle, aber ich glaube nicht, dass meine Stumpfheit von einem Mangel an sexueller Anpassung herkommt. Obwohl meine Frau und ich nun schon seit einiger Zeit wegen meiner Stumpfheit keine Geschlechtsbeziehung mehr haben, halte ich die Kinderlosigkeit nicht für den Grund.«

Warum sagen Sie das?

»Bevor ich so abstumpfte, erhielten meine Frau und ich die Gewissheit, dass wir keine Kinder bekommen könnten. Mich selber hat das nie sehr beunruhigt, aber sie weint oft deswegen. Sie möchte gern Kinder haben, doch einer von uns beiden ist offenbar zeugungsunfähig. Ich habe allerlei Vorschläge gemacht, wie sie zu einem Kinde kommen könne, aber sie will nichts derartiges versuchen. Sie will entweder ein Kind von mir oder überhaupt keins haben und ist darüber tief verstört. Schließlich ist ein Baum ohne Früchte nur noch eine Zierde. Wir haben oft nachts wachgelegen und es besprochen, aber die Tatsache besteht nun einmal. Ich verstehe, dass man nicht alles im Leben haben kann, und es ist wohl kaum der Mangel an Kindern, der mich so abgestumpft hat; wenigstens glaube ich, in diesem Punkte ziemlich sicher zu sein.«

Liegt der Grund vielleicht im Kummer Ihrer Frau, in ihrem Gefühl der Nutzlosigkeit?

»Sehen Sie, mein Mann und ich sind sehr gründlich auf all das eingegangen. Ich bin unendlich traurig, noch kein Kind zu haben, und bete zu Gott, es möge mir einmal eins beschert werden. Natürlich will mein Mann mich glücklich sehen, aber mein Kummer ist nicht der Grund für seine Stumpfheit. Bekäme ich jetzt ein Kind, so wäre ich überglücklich, doch für ihn wäre es nichts als eine Ablenkung, wie es das wohl für die meisten Männer ist. Die Stumpfheit ist seit zwei Jahren wie eine innere Krankheit langsam in ihm aufgestiegen. Früher sprach er mit mir über alles – über die Vögel, über seine Arbeit, seinen Ehrgeiz, seine Achtung und Liebe zu mir: er öffnete mir sein Herz. Jetzt ist sein Herz verschlossen und seine Gedanken sind wo anders, weit fort. Ich habe mit ihm darüber gesprochen, aber es nützt nichts.«

Haben Sie sich einmal vorübergehend getrennt und beobachtet, wie das wirkte?

»Ja, einmal bin ich auf sechs Monate zu meiner Familie gezogen, und wir haben uns nur geschrieben, aber die Trennung machte keinen Unterschied. Sie machte es eher schlimmer, wenn man noch von ›schlimmer‹ sprechen kann. Er kochte für sich selber, ging sehr wenig aus, hielt sich von seinen Freunden fern und zog sich immer mehr in sich selber zurück. Er ist nie sehr gesellig gewesen. Aber trotz der Trennung gab er danach kein Zeichen von Wiederbelebung.«

Glauben Sie, dass Ihre Stumpfheit eine Art Deckung, eine Pose oder vielleicht die Flucht vor einem unerfüllten, inneren Sehnen sein kann?

»Ich verstehe nicht ganz, was Sie meinen.«

Vielleicht haben Sie eine starke Sehnsucht nach irgendeiner Erfüllung, und da Ihr Verlangen keine Erlösung findet, versuchen Sie, dem Schmerz zu entfliehen, indem Sie sich abstumpfen.

»Es ist mir noch nie eingefallen, an so etwas zu denken. Wie soll ich das untersuchen?«

Warum ist Ihnen noch nie so ein Gedanke gekommen? Haben Sie sich je gefragt, warum Sie abgestumpft sind? Wollen Sie es nicht gern selber herausfinden?

»Seltsamerweise habe ich mich nie gefragt, was für einen Grund meine törichte Stumpfheit haben könnte.«

Wenn Sie sich jetzt die Frage stellen, welche Antwort würden Sie darauf geben?

»Ich glaube, ich weiß keine. Aber ich bin tatsächlich betroffen, wenn ich bedenke, wie erschreckend stumpf ich geworden bin. Ich war noch nie so und bin entsetzt über meinen Zustand.«