Karma – Teil 1

Stille lässt sich nicht ausbilden oder vorsätzlich herbeiführen, man kann sie weder erforschen noch über sie nachdenken oder meditieren. Absichtliches Pflegen von Stille gleicht dem Genuss eines langersehnten Vergnügens. Der Wunsch, unseren Sinn ruhig zu machen, ist nichts anderes als die Jagd nach Sensation, und solche Ruhe ist eine Form von Widerstand, eine Art Isolierung, die zur Zerrüttung führt. Stille, die man erkauft, ist wie etwas, das man zu Markte trägt – voll von geschäftigem Lärm. Ruhe kommt erst bei der Abwesenheit jeglichen Verlangens. Verlangen ist flüchtig und schlau und geht tief. Unser Gedächtnis schneidet immer das Schwingen der Stille ab, und wenn sich der Sinn in Erlebnissen verfängt, kann er nicht mehr ruhig sein. Zeit oder die Bewegung des Gestern ins Heute und Morgen ist nie Stille. Hört diese Bewegung auf, dann herrscht Stille, und erst dann kann das Unaussprechliche ins Dasein treten.

* * *

»Ich bin gekommen, um mit Ihnen über Karma zu sprechen. Natürlich habe ich eine bestimmte Ansicht darüber, aber ich würde auch gern die Ihre hören.«

Eine Meinung ist nicht Wahrheit, wir müssen unsere Meinungen beiseitesetzen, wenn wir Wahrheit finden wollen. Es gibt immer unzählige Ansichten, doch Wahrheit gehört in keine einzige Gruppe. Will man Wahrheit erkennen, so müssen alle Ideen, Schlussfolgerungen und Meinungen wie welke Blätter vom Baume fallen. Wahrheit lässt sich weder in Büchern, noch in Wissen oder Erfahrung finden, und wenn Sie auf der Suche nach Meinungen sind, werden Sie sie hier nicht antreffen.

»Können wir nicht über Karma sprechen und seine Bedeutung zu ergründen suchen?«

Natürlich, das ist etwas ganz anderes. Aber Ansichten und Schlüsse müssen aufhören, wenn man etwas verstehen will.

»Warum betonen Sie das so sehr?«

Kann man überhaupt etwas verstehen, wenn man schon im voraus seine Schlussfolgerungen gezogen hat oder die anderer Leute wiederholt? Müssen wir nicht frisch und ohne jedes Vorurteil an eine Frage herangehen, deren Wahrheit wir erforschen wollen? Was ist wichtiger: frei von Vorurteilen und Schlüssen zu sein, oder Betrachtungen über etwas Abstraktes anzustellen? Hat es nicht viel mehr Bedeutung, Wahrheit zu finden, als sich darüber zu streiten, was die Wahrheit sei? Eine Ansicht über Wahrheit kann doch niemals die Wahrheit selber sein.

Halten Sie es nicht für wichtig, die Wahrheit über Karma zu erfahren? Das Falsche als falsch zu sehen, ist der Beginn von Verständnis, nicht wahr? Wie sollen wir aber Wahres oder Falsches erkennen, wenn sich unser Denken hinter Worten, Erklärungen und Traditionen verschanzt? Wie kann unser Verstand weit gehen, wenn er so fest an einen Glauben gebunden ist? Will er weit reichen, so muss er frei sein. Freiheit wird nicht erst nach langer Mühe gewonnen, sie muss gleich zu Anfang der Wanderung da sein.

»Ich möchte gern wissen, was Sie unter Karma verstehen.«

Lassen Sie uns zusammen auf die Entdeckungsreise gehen. Es bedeutet nicht viel, die Worte eines andern zu wiederholen; das ist genauso, als ob man eine Grammophonplatte abspielt. Wiederholung oder Nachahmung führt nicht zur Freiheit. Was verstehen Sie unter Karma?

»Es ist ein Sanskrit Wort und bedeutet: tun, sein, handeln und so weiter. Karma ist Handlung, und Handlung ist das Ergebnis der Vergangenheit. Handeln vollzieht sich niemals außerhalb der Bedingtheit unseres Hintergrundes. Aus einer Kette von Erfahrungen, aus Bedingtheit und Wissen baut sich ein Hintergrund der Tradition auf, und zwar nicht nur im gegenwärtigen Leben des Einzelnen oder der Gruppe, sondern im Lauf vieler Inkarnationen. Karma ist die beständige Wirkung und Wechselwirkung zwischen dem Hintergrunde – dem ›Ich‹ –  und der Gesellschaft, dem Leben. Karma bindet unser Denken, unser ›Ich‹. Was ich in einem vergangenen Leben oder auch nur gestern getan habe, fesselt und formt mich, bringt mir Freude oder Schmerz in der Gegenwart. Ebenso wie das Karma des Einzelnen gibt es Gruppen- oder Kollektivkarma. Sowohl die Gruppe wie der Einzelne sind in der Kette von Ursache und Wirkung gefangen, und je nach dem Verhalten in der Vergangenheit kann man Freude oder Leid, Belohnung oder Strafe erwarten.«

Sie sagen, Handeln sei das Ergebnis der Vergangenheit. Aber solches Handeln ist überhaupt kein Handeln, sondern bloße Rückwirkung, nicht wahr? Mein Hintergrund oder meine Bedingtheit reagiert auf Reize; diese Reaktion kommt als Antwort aus meinem Gedächtnis, aber das ist nicht Handlung sondern Karma. Im Augenblick beschäftigen wir uns nicht damit, was Handeln ist. Karma ist eine Rückwirkung, die aus bestimmten Ursachen entsteht und gewisse Ergebnisse zeitigt, es ist die Kette von Ursache und Wirkung. Der Zeitablauf ist seinem Wesen nach Karma, nicht wahr? Solange noch Vergangenheit besteht, muss es auch Gegenwart und Zukunft geben. Heute und Morgen sind die Früchte des Gestern, und Gestern in Verbindung mit dem Heute schafft das Morgen. Karma wird im allgemeinen als ein Ausgleichsvorgang angesehen.